Bombardierte Krankenhäuser und verletzte Kinder – Bürgerkrieg im Jemen: Interview mit Tankred Stöbe
In der Republik Jemen herrscht schon seit fünf Jahren ein Bürgerkrieg. Die Menschen leiden nun auch noch unter der Coronapandemie. Es handelt sich um die größte humanitäre Krise weltweit – schon vor der Coronapandemie. Wie schlimm die aktuelle Lage im Jemen ist, das hat der Intensiv- und Notfallmediziner Tankred Stöbe Camäléon-Redakteur Julian Bidot erklärt.
Tankred Stöbe engagiert sich für „Ärzte ohne Grenzen“ und hat unter anderem im Jemen geholfen. Außerdem hat er ein Buch geschrieben: „Mut und Menschlichkeit: Als Arzt weltweit in Grenzsituationen„, das im Fischer Verlag erschienen ist.
Camäléon: Könnten Sie sich kurz vorstellen?
Tankred Stöbe: Ich heiße Tankred Stöbe, bin Internist, Intensiv- und Notfallmediziner in einer Berliner Klinik, zudem seit 2002 in über 20 Einsätzen mit Ärzte ohne Grenzen im Ausland gewesen, zuletzt 2020 im Jemen und Südasien, zuvor in Venezuela, Libyen und Syrien. Einige dieser Erfahrungen wurden im Buch „Mut und Menschlichkeit“ veröffentlicht.
Camäléon: Wie ist die aktuelle Lage im Jemen?
„Die Lage ist katastrophal.“
Stöbe: Seit sechs Jahren herrscht im Land ein tödlicher Bürgerkrieg, täglich fallen Bomben, werden Zivilisten getötet und verwundet. Über die Hälfte aller Krankenhäuser sind zerstört, bei steigendem Behandlungsbedarf gibt es immer weniger Behandlungsmöglichkeiten. Auch werden Ärzte und Lehrer seit Jahren nicht mehr bezahlt, die Lebensmittelpreise sind enorm gestiegen, sodass sich die Menschen nicht mehr ausreichend ernähren können und hungern. Die Lage ist so katastrophal, dass niemand genau sagen kann, wie viele Menschen in dem Konflikt tatsächlich ums Leben gekommen sind – Schätzungen gehen in die Zehntausende.
Camäléon: Inwiefern hat sich die Lage durch die Coronapandemie verschlechtert?
Stöbe: Das Land war nicht vorbereitet. Dazu fehlten verlässliche Informationsquellen, nicht ausreichende Testkapazitäten und auch kaum Behandlungsoptionen. Offiziell sind nur 2000 Jeminiten infiziert und über 600 gestorben, aber die wirklichen Zahlen und das menschliche Leid durch Covid-19 ist sehr viel höher. Kaum eine Familie ist nicht betroffen. Die meisten Infizierten sind zuhause gestorben, weil die Krankenhäuser sich weigerten, Patienten aufzunehmen. Es bedurfte einer Studie mit Satelliten-Aufnahmen, um Friedhöfe vor der Pandemie und jetzt zu vergleichen und um zu sehen, wie viel mehr Gräber in diesem Jahr ausgehoben wurden. Die Übersterblichkeit ist groß.
Camäléon: Wie kann „Ärzte ohne Grenzen“ den Menschen vor Ort helfen?
Stöbe: Für uns ist der Jemen mittlerweile das drittwichtigste Krisengebiet. Viele unserer Ärztinnen, Pfleger, Koordinatorinnen und Logistiker arbeiten dort. Zudem bringen wir kontinuierlich Tonnen von Medikamenten und medizinischem Material in den Jemen. „Ärzte ohne Grenzen“ betreibt etwa ein Dutzend eigener Kliniken und unterstützt weitere Gesundheitseinrichtungen. Es geht um die Versorgung von Menschen mit Kriegsverletzungen, nach Verkehrsunfällen, Schwangerschaftskomplikationen. Aber auch eigentlich ausgerottete Krankheiten wie Polio und Diphterie kehren zurück, weil Kinder nicht mehr geimpft werden können. Im Mai eröffneten wir die einzige Covid-Klinik im südlichen Jemen und konnten dort über 350 schwerkranke Patienten behandeln.
Camäléon: Wie kann man Ärzte ohne Grenzen und somit die Menschen im Jemen unterstützen?
„Wichtig finde ich es, das Land und seine Menschen nicht zu vergessen.“
Stöbe: Wichtig finde ich, das Land und seine Menschen nicht zu vergessen und somit ist dieser Beitrag in Eurer Schülerzeitung eine wichtige Geste. Ansonsten suchen wir immer medizinische und nicht-medizinische Helfer, aber auch Spenden sind willkommen.
Spendenaufruf: siehe unten!
Camäléon: Warum wird Ihrer Meinung nach so wenig über die schreckliche Situation im Jemen berichtet?
Stöbe: Das Land ist isoliert und abgeriegelt: von zwei Seiten vom Meer umschlossen, im Osten eine große Wüste zum Nachbarland Oman und der neue Erzfeind Saudi-Arabien hat die nördliche Grenze geschlossen. Jemeniten werden an der Flucht gehindert, Journalisten nichts ins Land gelassen. Daher freue ich mich über Euer Interesse, von diesem Konflikt zu berichten. Als humanitärer Helfer darf ich einreisen und war bereits 2017 im Jemen. Somit gehöre ich zu den wenigen Deutschen, die das Land aktuell besuchen können.
Camäléon: Sie haben doch sicher schreckliche Bilder im Kopf. Wie können Sie diese verarbeiten?
Stöbe: Gut erinnere ich mich an die Geschichte von Aya, einem vierjähriges Mädchen, das im Sommer von einem Auto überfahren wurde. Sie litt an schweren abdominellen Blutungen und Rippenbrüchen und eigentlich hätte sie diesen Unfall nicht überleben können. Aber Aya hatte Glück im Unglück: Sie überlebte und die wichtigen Bauchorgane wie Darm, Leber und Milz blieben intakt. Nach der mehrstündigen Operation mussten wir sie noch einige Tage auf der Intensivstation behandeln, aber ihre Prognose ist gut.
Camäléon: Im Jemen herrscht Bürgerkrieg. Hatten Sie keine Angst, angegriffen zu werden?
Stöbe: Die Gefahr besteht immer, gerade in Kriegsgebieten. Besonders grausam ist es, wenn Krankenhäuser bombardiert werden. Das kommt im Jemen immer wieder vor. Bei meiner ersten Projektmitarbeit vor drei Jahren kam es zu einer Schießerei im Krankenhaus. Da hatten wir alle große Angst. Als das vorüber war und klar wurde, dass dies kein Angriff auf das Krankenhaus oder die Organisation war, konnten wir weiterarbeiten. Aber solche Zwischenfälle sind selten. Die positiven Erfahrungen überwiegen deutlich. Auch deshalb werde ich nicht müde. Vielleicht klappt es schon bald mit einem nächsten Einsatz. Wohin der gehen wird? Das weiß ich nicht. Manchmal entscheidet sich das erst wenige Stunden vor Abflug.
Link zur Internetseite von „Ärzte ohne Grenzen“: https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/
Das Spendenkonto von „Ärzte ohne Grenzen“ lautet:
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