Der Fußball als Brennglas der Gesellschaft: Gewalt gegen Unparteiische
Es ist die beliebteste und am weitesten verbreitete Sportart der Welt mit über 260 Millionen Aktiven und knapp 4 Milliarden Fans: Fußball. Zum Spielen braucht man nicht viel: Zwei Mannschaften, einen Ball und eine freie Fläche. Doch sobald aus den Mannschaften Vereine werden und der freie Platz ein Fußballfeld, werden auch Schiedsrichter*innen gebraucht. Von denen gibt es knapp 24.000 in Frankreich und 53.000 in Deutschland. Eine Zahl, welche in den letzten Jahren überwiegend gefallen ist. Ein großer Grund dafür: Die häufige und aggressive Gewalt am Rande der Fußballfelder.
Man stelle sich folgende Situation vor: Es läuft die 75. Spielminute beim Spielstand von 2:1 in einem Kreisliga-Spiel. Ein Angreifer bekommt einen langen Ball, er läuft alleine Richtung Tor. Plötzlich kommt ein Verteidiger seitlich angerannt und grätscht den Spieler ohne Chance auf den Ball weg. Eine Situation, welche keinen Raum für Interpretationen lässt. Trotzdem: Der Spieler beschwert sich lautstark über die rote Karte, beleidigt den Schiedsrichter. Ein anderer kommt hinzu, schlägt dem Unparteiischen auf die Brust. Und als ob das nicht genügt: Als der Schiedsrichter nach dem Spielabbruch das Feld verlassen will, wird er von hinten mit der Faust niedergeschlagen. Eine unfassbare Szene möchte man meinen, kaum vorzustellen. Und dennoch ist es genauso passiert. Auf einem unscheinbaren Fußballplatz im saarländischen Merzig-Fitten am 28. Mai 2023.
Der Vorfall wurde weit über die Grenzen des Saarlandes bekannt und entfachte erneut eine lange Debatte. Wie steht es um die Schiedsrichter, welche jedes Wochenende die Fußballspiele in Deutschland leiten?
Erst einmal die Fakten: In der Saison 2009/2010 zählte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) knapp 78.500 Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter. Seitdem gehen die Zahlen immer weiter zurück. 2017 waren es noch 59.000, in der Corona-Saison 2020/21 gerade mal 49.800. Ein Abfall von knapp 40% über die vergangenen 14 Jahre. Enorm sagen die einen, normal die anderen. Mittlerweile ist die Anzahl an Schiedsrichtern seit dem Ende der Corona-Maßnahmen wieder leicht gestiegen, auf letztlich 53.600 in der vergangenen Saison. So oder so, es sind noch lange nicht so viele wie vor einigen Dekaden.
Für diese Entwicklung gibt es natürlich auch Gründe. Die oben angegebenen Zahlen umfassen alle Schiedsrichter. Logisch, wird man sich jetzt wohl denken. Das stimmt aber nicht ganz: Ältere Schiedsrichter, welche selbst mal gepfiffen haben, werden nach ihrer Karriere als aktive Schiedsrichter meist Beobachter oder Funktionäre. Sie gelten dann offiziell noch als Schiedsrichter, werden somit mit in die Statistik gezählt, leiten aber selbst keine Spiele mehr. Und vor allem dieser immer älter werdende Anteil an Schiedsrichtern geht über die Jahre hinweg verloren, während er mit der Zeit wegen höherem Alter auch wächst. De facto gilt: Es kommen nicht genug neue, meist junge, Schiedsrichter*innen nach, um die aufhörenden, meist älteren zu ersetzen.
Verstärkt wird dieser Abfall auch durch Krisen, wie zum Beispiel während Corona. Aufgrund der Pandemie sind zahlreiche, fast alle Spiele ausgefallen. Viele haben daraufhin mit der Schiedsrichterei aufgehört.
Ein weiterer Grund: Gewalt, verbal wie körperlich. Im Schnitt werden pro Wochenende in Deutschland 2 bis 3 Schiedsrichter körperlich attackiert. Laut Umfrage im Amateurfußball-Barometer 2023 sprechen 85% der Unparteiischen von mangelndem Respekt, 30% geben Gewalt gegen Schiedsrichter*innen als Problem an.
Doch welche Meinung haben Offizielle des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) dazu? Ronny Zimmermann ist der 1. Vizepräsident des DFB und seit über 10 Jahren Mitglied des DFB-Präsidiums.
Möglichkeit A: Die Einzelvorfälle sind gravierender. Möglichkeit B: Die Schiedsrichter sind sensibler geworden.
(Ronny Zimmermann, 1. DFB-Vizepräsident)
Die Anzahl an Vorfällen, auch an schlimmen Vorfällen sei konstant, auch wenn jeder Vorfall einer zu viel sei. Zimmermann zu Camäléon: “In einem Vergleichszeitraum des DFB ist die Anzahl an Gewaltvorfällen bei uns um ein Prozent gestiegen, in der Stadt Frankfurt indes um 23%”. Dabei hat die Zahl der Gewalt- und Diskriminierungsvorfälle in der Saison 2022/2023 im Vergleich zur Vorsaison von 5.847 um knapp 400 auf nunmehr 6.224 zugenommen, so der aktuelle DFB-Lagebericht des Amateurfußballs. Hierbei sind allerdings nur die tatsächlich gemeldeten Vorfälle mit einberechnet. Experten gehen von einer viel höheren Dunkelziffer aus. Zimmermann führt die Problematik auf allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen zurück: “Wir leben nunmal in einer Gesellschaft, in der ganz viele ganz unschöne Dinge passieren”. Weshalb die Anzahl der Vorfälle im Fußball steigt, das weiß keiner so genau. Zimmermann kann sich zwei Gründe vorstellen: “Möglichkeit A: Die Einzelvorfälle sind gravierender. Möglichkeit B: Die Schiedsrichter sind sensibler geworden”.
Die mediale Präsenz der Vorfälle habe in den vergangenen Jahren zudem stark zugenommen, so Zimmermann. Das führe dazu, dass in der Gesellschaft viel mehr darüber gesprochen werde. So habe die Handball-WM 2015 in Katar zum Beispiel kein großes Aufsehen erregt, doch die Fußball-WM umso mehr.
Der Fußball macht brutal viel Gutes. […] Und wenn viele Menschen im Fußball arbeiten […], dann ist es normal, dass da ein paar dabei sind, die nicht unbedingt nett sind.
(Ronny Zimmermann)
Es bleibt festzuhalten, dass die Fallzahl von Gewalt gegen Unparteiische auf beängstigend hohem Niveau verharrt. Doch wie entstehen solche Konfrontationen überhaupt? Laut Zimmermann liegt die Ursache im Spiel selbst. Im Handball zum Beispiel, liefe die Zeit bei einer Konfrontation erbarmungslos weiter. In dieser Zeit erzielt der Gegner ein möglicherweise spielentscheidendes Tor. Die natürlichen Spielunterbrechungen im Fußball allerdings lassen Raum für eben diese Konfrontation, zum Beispiel bei der Vorbereitung eines Frei- oder Eckstoßes. Es brauche definitiv keine Spieländerung, sondern man müsse sich dieser Tatsache bewusst sein. Zudem sei es quasi Gesetz, dass der Schiedsrichter, der ja im Endeffekt die Entscheidungen fällen muss, als Prügelknabe der Mannschaften gilt. Man brauche das “Opfer” nicht zu suchen – der Schiedsrichter sei ja da. Es sei aber auch wichtig, nicht alles in ein schleches Licht zu rücken: “Der Fußball macht brutal viel Gutes. […] Und wenn viele Menschen im Fußball arbeiten […], dann ist es normal, dass da ein paar dabei sind, die nicht unbedingt nett sind”, so Zimmermann.
Wir haben in den USA Staaten mit Todesstrafe. Und trotzdem wird da gemordet.
(Ronny Zimmermann)
Ein höheres Strafmaß hält Zimmermann nicht für sinnvoll. Im Moment einer Tat denke der Angreifer nicht über die Folgen nach. Ihn ergreife die Wut, welche ihn zu einem solchen Verhalten verleite. Nur weil es harte Strafen gibt, heißt es nicht, dass es nicht passiert. Dies sähe man besonders in Amerika, wo manche Staaten zwar die Todesstrafe haben, aber dennoch gemordet werde. Es brauche alternative Lösungsansätze, die bisher allerdings noch nicht gefunden wurden. Die Forderung nach drastischen Strafen sei “populistisches Gerede”, eine Umsetzung einfach nicht machbar.
Diese verbale Gewalt, Beschimpfungen, Beleidigungen, Bedrohungen, hat jeder Schiedsrichter schon erlebt.
(Thomas Kirches, Mitglied der Arbeitsgrauppe “Keine Gewalt gegen Schiedsrichter”)
Die freie Arbeitsgruppe “Keine Gewalt gegen Schiedsrichter” befasst sich seit 2003 mit dem Thema. Im Gespräch mit Thomas Kirches, einem von vier Gründungsmitgliedern dieser Arbeitsgruppe, kristallisiert sich eines heraus: Der Ton, nicht nur im Fußball, ist in den letzten Jahren rauer geworden. Tatsächlich war die Anzahl der Gewaltvorfälle laut aktueller polizeilicher Kriminalstatistik auf einem Rekordhoch in Deutschland mit knapp 197.202 Fällen – der höchste Wert seit 2010. Im ersten Halbjahr 2023 sind die Zahlen von Gewaltdelikten auf öffentlichen Straßen und Plätzen laut BKA um rund 14 Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr 2022 angestiegen. Im Fußball drückt sich dies in weit verbreiteter verbaler Gewalt aus: “Beschimpfungen, Beleidigungen und Bedrohungen hat jeder Schiedsrichter schon erlebt”, so Kirches. Tatsächlich geben 96% der befragten im DFB-Amateurschiedsrichter-Barometer an, schon Respektlosigkeit wahrgenommen oder selbst erlebt zu haben.
Wir müssen uns darum kümmern, dass die richtig was zu verlieren haben.
(Thomas Kirches)
Laut Thomas Kirches müsse man zwischen den Spielklassen unterscheiden. In den oberen Spielklassen, das heißt Bundesliga, zweite Bundesliga und Dritte Liga, haben die Spieler “ganz viel zu verlieren“. Infolgedessen kommt es in diesem Profiklassen nie zu Gewaltvorfällen. Wo die Anfeindungen sind, das seien die Kreisklassen. Die Spieler in diesen unteren Ligen haben seiner Meinung nach nichts zu verlieren. Infolgedessen können sie es sich erlauben, unter anderem Schiedsrichter verbal wie auch körperlich anzugehen: “Wir müssen uns darum kümmern, dass die richtig was zu verlieren haben”, so Kirches. Dazu komme, dass das Strafmaß häufig sehr gering ausfiele und die Wege, dieses zu umgehen, recht simpel seien. So habe er schon oft gehört, dass ein Spieler einfach unter anderem Namen bei einem anderen Verein nach einem Vorfall weiterspielt. Diese uneinheitlichen und zu milden Strafen seien ein “fatales Signal“.
Wer spielt denn Handball, wer spielt denn Basketball? Da passiert nichts! (Thomas Kirches)
Ein Fußballfeld ist um einiges größer als ein Handball- oder Basketballfeld. Trotzdem häufen sich im Fußball die Gewaltvorfälle um einiges mehr als zum Beispiel im Basketball. Für Kirches unverständlich: “Wer spielt denn Handball, wer spielt denn Basektball? Da passiert nichts!” So scheine es also kein rein gesellschaftliches Problem zu sein, sondern auch ein fußballerisches Problem. Gegen dieses wird laut Kirches allerdings zu wenig unternommen. Er sieht unter anderem den DFB in der Pflicht, mit den Landesverbänden besser zusammenzuarbeiten und nicht die Verantwortung abzugeben. Man müsse das Problem in der Gesellschaft sichtbar machen und offen ansprechen. Die Fakten müssten transparent angegeben werden und betroffenen Schiedsrichtern geholfen werden. Es ginge nicht darum, die Verantwortung auf den jeweils anderen zu übertragen, sondern selbst die Initiative zu ergreifen.
Auf die Aussagen von DFB-Vertreter Ronny Zimmermann angesprochen, verlangt Kirches mehr Transparenz. Der DFB solle nicht die Zahlen schönreden, und auch nicht mehr von den Schiedsrichtern verlangen, sondern einsehen, dass es nicht normal sein kann, dass Schiedsrichter beleidigt oder bedroht werden. Es brauche konkrete Leitfäden und Regeln, welche Gewaltvorfälle nahezu ausschließen.
Wir dürfen nicht auf den ersten toten Schiedsrichter warten.
(Ralf Kisting, Hertha BSC)
Ralf Kisting ist Referent für die Geschäftsführung beim Zweitligisten Hertha BSC und Schiedsrichtersprecher des Berliner Fußballverbandes. Auch er ist langjähriger Schiedsrichter. Im Jahr 2019 organisierte er in Berlin einen Streik, bei welchem kein Schiedsrichter zu seinem Spiel fuhr. Dieser erregte deutschlandweites Aufsehen. Die Message: “Wir dürfen nicht auf den ersten toten Schiedsrichter warten”, so Kisting. Die Maßnahmen müssen schneller und härter kommen. Daraufhin wurde im Berliner Fußallverband eine psychologische Assistenz für Opfer eingerichtet – der Streik hat also durchaus Wirkung gezeigt.
Trotzdem: Auch Kisting sagt, der Ton in der Gesellschaft generell sei rauer geworden. Aber das sei keine Ausrede. Er sieht den DFB in der Pflicht, ein einheitliches Strafmaß zu setzen: “Derjenige, der in Rostock einen Schiedsrichter umhaut, muss die selbe Strafe bekommen, wie jemand, der es in Rosenheim tut. Wenn ein Spieler zwei Jahre gesperrt wird, darf es nicht sein, dass er sich sechs Monate später in einem anderen Landesverband wieder anmeldet”, so Kisting.
Wir interessieren uns für Negativbeispiele, wir wollen gar keine Positivbeispiele. Auch das ist unsere Gesellschaft.
(Ralf Kisting)
Ein weiterer Faktor sei die Presse. Ein Angriff auf einen Schiedsrichter wird sofort von den Medien groß aufgenommen und publiziert. Kisting spricht aber auch von positiven Beispielen: In seinem Fußballverband gibt es einen gehörlosen Schiedsrichter, welcher jedes Wochenende in der höchsten Berliner Amateurklasse pfeift. Man solle nicht nur das Negative zeigen, sondern dieses auch bekämpfen und das Positive deutlich machen: “Wir interessieren uns für Negativbeispiele, wir wollen gar keine Positivbeispiele. Auch das ist unsere Gesellschaft”. Er sieht nicht nur den DFB, sondern auch jeden Einzelnen in der Pflicht, respektvoll mit seinen Mitmenschen umzugehen – was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte.
Als konkrete Maßnahmen hat der DFB nun unter anderem das Projekt “Profi wird Pate” eingeführt sowie das “Jahr der Schiris” ausgerufen. Es wird also schon versucht, etwas zu unternehmen und die Wertschätzung für Schiedsrichter*innen zu steigern. Trotzdem bleibt es ein Problem innerhalb der Gesellschaft, dass der Umgang miteinander immer unfreundlicher und aggressiver wird. Der Fußball ist also ein Brennglas der Gesellschaft.
Es braucht also weiter kreative und alternative Ansätze, um die Gewalt, nicht nur auf dem Fußballplatz, sondern auch innerhalb der Gesellschaft zu mindern. Denn sich zu verprügeln, um seine Meinung durchzusetzen, hilft keinem.
Egal wie aggressiv der Ton auf dem Platz sein kann oder welches Bild manchmal vermittelt wird, bei einer Sache sind sich aber alle Interviewpartner einig: Fußball und noch vielmehr die Schiedsrichterei sind lohnenswerte und spaßbringende Hobbys. (Weitere Infos bei Interesse an einer Schiedsrichteraus- und Fortbildung hier.)
Hinweis: Der Artikelautor ist selbst Fußballschiedsrichter und Zeuge einiger Vorfälle geworden.